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Hier & Jetzt

Ich mache seit 8 Jahren Yoga. Ich weiß theoretisch schon lange von den Vorzügen des Lebens im Hier und Jetzt anstatt in der Vergangenheit oder Zukunft. Aber da driften, wie so oft, Theorie und Praxis im Alltag immer mal wieder auseinander. Die vergangenen Wochen und Monate waren meine Gedanken viel zu häufig mit der Zukunft befasst. Was bei der derzeit besonders unberechenbaren Zukunft tendenziell anstrengend war. Oft drehte sich mein Kopf um die Frage, wann wir endlich mal wieder unkompliziert nach Deutschland reisen können.

 

Es ist ja nicht so, dass ich das erste mal so lange nicht zuhause in Deutschland bei Familie und Freunden war. Hey, mein Rekord liegt bei 12 Monaten. Aber es ist natürlich etwas anderes, wenn ich mich lange im Ausland aufhalte, aber bei Bedarf jederzeit unkompliziert einen Flug buchen könnte, wenn mir der Sinn danach steht und mir ebenso der Rückweg in das Land meiner Wahl wieder offen steht. Das war und ist in diesem Fall nun aber leider anders. Es gibt zwar mittlerweile wieder etwas mehr Flüge zwischen Deutschland und China, aber die kosten in etwa das zehnfache wie zuvor. Die Visa-Regelungen zur Wiedereinreise wurden auch ein klitzekleines bisschen gelockert, aber es ist weiterhin eine Rennerei zum Konsulat, ein Kampf mit neugierigen Online-Formularen und einer 14-tägigen kontrollierten Quarantäne hier vor Ort verbunden.

 

Diese Woche habe ich für mich beschlossen, diese ganzen "hätte, wäre, könnte, vielleicht"-Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, da sie mir auf Dauer nicht gut tun. Wir befinden uns jetzt in der zweiten Schulwoche und haben unseren Shanghai-Alltag zurück. Das bedeutet für mich Sport, Chinesisch Unterricht, mehr Zeit zur freien Verfügung. Das tut gut nach den langen Sommerferien und ich merke, wie ich die Zeit hier gerade wieder sehr gut genießen kann. Das sah zwischendurch schon mal anders aus. Da war ich von vielen Kleinigkeiten schnell genervt und hatte das Gefühl, ich bräuchte mal eine kleine China-Auszeit, weil mir alle möglichen Dinge und chinesischen Eigenheiten auf den Keks gingen. Gott sei Dank ist dieses Gefühl mittlerweile wieder weg. Ich kann wieder sagen: "Ich bin gerne hier." und das ist gut so.

 

Natürlich möchte ich gerne in den Weihnachtsferien nach Deutschland fliegen, Freunde treffen, Weihnachten im Norden bei meiner Familie sein und Sylvester gemeinsam mit einigen Lieblingsmenschen feiern. Wir haben zumindest Flüge gebucht. Aber ich versteife mich nicht mehr darauf, dass die auch durchgeführt werden. Eigentlich hatte ich mal laut verkündet, dass ich allerspätestens mit Beginn der Ferien Mitte Dezember im Flugzeug sitzen werde, egal wie und ob wir im Anschluss zurück nach Shanghai kommen können. Das war etwas vorlaut. Denn da spielt überraschenderweise der Junior überhaupt nicht mit. Er sagte dazu nur, wenn er dann vielleicht nicht wieder hier zurück in die Schule könnte oder auch viel zu spät kommen würde, dann wird er nicht ins Flugzeug steigen. Dann möchte er lieber hier bleiben. Mindestens bis zum Sommer.

Auch wenn ich diese Aussage, oder besser Ansage vom Junior so nicht erwartet hätte, finde ich sie im Grunde super. Zeigt er mir doch dadurch, dass er sich hier in Shanghai mit seiner Schule, seinen Freunden, seinem Alltag total wohl fühlt. Das ist einfach nur schön und auch nicht unbedingt selbstverständlich. Außerdem findet in diesem Schuljahr wahrscheinlich hier in Shanghai eher durchgehend Präsenzunterricht statt als in Bayern. Ein eindeutiger Standortvorteil.

 

Und da man ja immer wieder von den weisen, unverdorbenen Sprüchen der Kinder liest und hört, habe ich mir seine Gedanken mal genauer angeschaut und für gut befunden. Recht hat er. Denn auch ich bin gerne hier. Auch ich möchte, dass die Zeit hier nicht so ganz plötzlich endet. Bis zu den nächsten Sommerferien sind es im Grunde ja nur 10 Monate. Das ist jetzt meine neue persönliche Deadline. So lange will ich gerne noch ohne Murren und Zetern durchhalten, auch wenn ich im worst case zwischendurch nicht nach Deutschland reisen kann. Bis dahin wird noch viel Wasser sowohl den Huangpu und Yangtze als auch Rhein und Isar hinunter fließen und wer weiß, wie die Welt bis dahin tickt. Vielleicht sieht es ja auch zu Weihnachten schon besser aus. Ich lass mich überraschen. Bin wieder entspannter, was die nächste Zeit so bringt, was das Leben noch so für Special Effekte für uns persönlich und uns als Welt bereit hält. Verrücktes Leben... aber mit langweilig wäre ich ja auch nicht zufrieden.

 

Mit lieben und positiven Grüßen, bis ganz bald oder zumindest baldmöglichst!

die Gatzingerin