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Außenansicht

Jeden Morgen zu Tee und Obstsalat gehört eigentlich immer ein intensiver Blick auf die Seiten der SZ und der Zeit, auch wenn er mich momentan etwas verstört und ratlos zurück lässt. Der Blick von außen auf die Corona-Situation in Deutschland, in Europa ist schwierig. Der Blick von außen auf ein Land, eine Familie, einen Menschen ist natürlich immer schwierig, da man ja nie den gleichen Blickwinkel hat. Trotzdem habe ich, hat jeder so seine Gedanken...

 

Das Bild, was ich momentan von Deutschland in meinem Kopf habe, ist hauptsächlich von Chaos, Uneineigkeit und einem ewigen Gezerre und Gezeter geprägt. Hin und Her. Ja, nein und vielleicht. Grün, gelb, rot und nun auch noch dunkelrot. Europa als Ganzes sieht da noch schlimmer aus, aber das leider nicht erst seit 2020. Es fällt nur noch mehr ins Auge. Dabei scheint es gerade jetzt so wichtig, dass alle Länder gemeinsam an einem Strang ziehen. Aber an welchem Strang? Wieder Uneinigkeit. Schwierig.

 

Ich bin ja auch kein Mensch, der normalerweise auf viele Vorschriften und Verbote steht, aber ich bin immer ein Freund der klaren Ansage, der klaren Linie, der Entscheidungsfreudigkeit. Herumeiern war eher nicht mein Fall - zumindest in meiner Innenansicht. Bei manchen Ideen und Aktionen meiner liebsten Freunde habe ich schon Früher gerne mal "den Ehlers raushängen lassen"; so wurde das damals genannt ;-) Jetzt lebe ich seit 15 Monaten in einem Land der extrem klaren Linie, sagen wir mal so. Meine Bewegungsfreiheit, meine Reisefreiheit war im Frühjahr und Sommer stark eingeschränkt und ich konnte nicht zu Freunden und Familie reisen, mit denen ich im Grunde Zeit verbringen wollte. Ich konnte selbst in den Herbstferien nicht mal innerhalb Chinas reisen. Das fand ich nicht schön, aber diese Kröte mussten wir schlucken.

 

Auch hier in diesem Riesenland ploppen immer mal wieder kleinere Ausbrüche auf. Es wird dann schnell reagiert, abgeschottet, Reiseverbote erteilt, Bewegungsfreiheiten werden lokal weiter eingeschränkt und Millionen von Menschen getestet. Quarantäne ist keine Option sondern verpflichtend. Reisen ohne Corona-App ist unmöglich, der Konzert- oder Museumsbesuch ebenso. Oft ist beim Reisen in andere Provinzen zusätzlich noch ein negativer Covid-Test notwendig. Der Test ist problemlos möglich und innerhalb von maximal 48 Stunden bekommt man das Ergebnis auf seinem Handy angezeigt. Und selbstverständlich immer wieder Maske, Maske, Maske im Taxi und ÖPNV und überall dort wo es eng und voll wird. Im Frühling durfte man nur mit Maske das Haus verlassen und selbst heute tragen einige Menschen sie ununterbrochen und freiwillig. Natürlich ist das Ganze insgesamt aufwendig, gläsern und etwas übergriffig, aber all das hat dazu beigetragen, dass wir hier im Land wieder einen recht normalen Alltag führen können. Ohne Abstand zu den Lieblingsmenschen vor Ort. Dafür mit Umarmungen, Kindergeburtstagen, geregeltem Schulalltag, "Oktoberfest", Sportveranstaltungen, Kulturevents und Partys. Fast normaler Alltag. Dafür bin ich dankbar. Dafür nehme ich die Einschränkungen ohne viel Murren auf mich. Es ist gerade einfach nicht die Zeit der Rosinenpickerei.... Bullerbü ist später, Ponyhof ebenso.

 

Es ist mir bewusst, dass ich natürlich mit den strengen Regeln hier wahrscheinlich besser leben kann als die vielen Millionen Chinesen im Land, da ich immer die Option im Hinterkopf habe "Hey, wenn es wirklich schlimm werden sollte, wenn es mir zu viel wird, dann fliege ich nach Hause in meine andere Blase." Das ist natürlich ein Luxus, der mich die Situation hier vielleicht entspannter erleben lässt. Ich habe die Sicherheit, ich müsste nicht weit oder nicht lange über meine persönliche Grenze hinaus gehen; wobei sich meine persönliche Grenze ganz sicher auch schon verschoben hat und möglicherweise auch noch weiter verschieben wird. Grenzen im Kopf, im Denken, im Leben sind ja GottseiDank flexibel, dehnbar, erweiterbar, ja sogar sprengbar. Momentan möchte ich aber nirgends anders sein als hier und genauso geht es eigentlich allen Menschen in meiner kleinen China-Blase, mit denen ich spreche. Natürlich vermisse ich Freunde und Familie, aber unter den gegebenen Umständen wäre ein entspanntes Zusammensein dahoam in D einfach unmöglich. Das tut mir leid, das tut manchmal weh, aber es ist wie es ist. Wie froh bin ich da um den teilweise intensiven Austausch, den ich mit einigen lieben Menschen in Deutschland trotz der Distanz gerade habe. MessengerDiensten und Video-Telefonie sei Dank!

 

Sowohl meine Chinesisch-Lehrerin als auch mein TaiChi-Lehrer fragten mich in den letzten Wochen besorgt, was denn da in Europa, in Deutschland los sei. Warum die Zahlen wieder so in die Höhe schnellen können, wo es doch im Sommer ganz gut aussah. Warum sich viele nicht an Regeln halten oder es so wenig Regeln gibt. Wieso? Weshalb? Warum? Auf die meisten dieser Fragen weiß ich nichts zu antworten. Ich kann manches erklären, vieles aber nicht. Stehe teilweise selbst vor einem Rätsel. Das ist die Aussenansicht. Obwohl ich doch auch eigentlich zum Innenleben von Deutschland gehöre, dachte ich.

 

Ich wünsche mir... so einiges....dass Deutschland, dass Europa das Virus wieder besser unter Kontrolle bekommt. Dass die Menschen wieder mehr an einem Strang ziehen...dass von "Oben" klare, einheitliche Linien erkennbar sind, die Halt bieten statt zu verwirren. Ich wünsche mir, dass es nicht als schlimm betrachtet wird, wenn in diesen Zeiten keine tollen Urlaube möglich sind, dafür aber hoffentlich die Schulen und Kitas offen bleiben können. Dass wir nicht im Frühling für Krankenhauspersonal und Pflegekräfte klatschen, im Laufe des Sommers die Zahlen durch unser Verhalten aber wieder so weit nach oben treiben, dass genau diese Menschen wieder an und über ihre Grenzen gehen müssen. Anscheinend braucht es strengere Regeln damit wir eher egozentrisch denkenden Menschen dieses fiese Virus in den Griff bekommen. Aber wenn ich immer noch Meinungen lese, dass Corona nicht so schlimm sei, während in Belgien, im Herzen dieses wirklich wunderbaren Europas, das Gesundheitssystem am Rande des Zusammenbruchs steht, dann fällt mir einfach nichts mehr ein. Ich wünsche mir mehr Verständnis und Gemeinsinn als das immer lauter werdende ich Ich ICH aus manchen Ecken. Von einigen Menschen höre ich, dass sie sich sehr zurückziehen und den Kontakt auf wenige Freunde und Verwandte reduziert haben. Das beruhigt mich. Vielleicht gibt es insgesamt aber auch viel mehr Zusammenhalt und Rücksichtnahme als es für mich hier in Fernost sichtbar ist. Ich weiß es nicht. Ich wünsche es mir.

 

Das ist mein Blick von Außen auf Europa, Gedanken von Außen. Ich stecke gerade nicht drin im Leben in Deutschland, ich bin nicht vor Ort. Ich weiß auch nicht wirklich, was ich selbst tun und lassen würde, wenn ich jetzt gerade in meinem oberbayerischen Dorf leben würde. Ich lese nur und bekomme Geschichten am Telefon erzählt. Wahrscheinlich denken jetzt einige, "Die Gatzingerin hat gut reden da im fernen China". Das kann gut sein. Das ist ok. Der Blick von Außen ist immer schwierig, nicht nur von hier aus auf Deutschland, sondern auch von Deutschland aus auf den Rest der Welt. Der Blick ist immer gefärbt durch das eigene Denken und Erleben. Den einen, den richtigen Blick gibt es einfach nicht. Das wird mir gerade wieder bewusst. Vielleicht stoße ich mit meinen Worten jemandem vor den Kopf, vielleicht schüttelt auch jemand, den ich sehr mag, den Kopf über mich. Das ist ok, das kann ich nicht ändern. Vielleicht würden meine Gedanken etwas anders aussehen, hätte ich nur die Innenansicht. Keine Ahnung - Ich werde es nicht erfahren. Ich habe mich auch gefragt, ob es besser sei, diese Zeilen hier vielleicht nicht zu schreiben. Es sind ja nur meine persönlichen Gedanken. Aber egal, ich tu's.

 

Als ich im Februar in München in den Flieger gestiegen bin, um zurück nach Shanghai zu fliegen, hätte ich nie gedacht, dass das Virus so lange über unser Leben bestimmen würde und ich so lange darauf verzichten müsste, meine Freunde und Familie zu sehen und in den Arm zu nehmen. Auch ich sehne mich nach unkomplizierten Treffen mit dem Mädels im Norden, gemeinsamen Sylvesterpartys oder Weihnachten mit der kleinen Großfamilie. Mein Plan für dieses Jahr sah anders aus, aber so ist das Leben immer wieder. An manchen Tagen verlangt es mehr von uns als an anderen.

2020 - noch 2 Monate bleiben uns - Machen wir das Beste aus den Herbst- und Wintertagen, die da kommen.

 

Bleibt gesund. Passt auf euch auf. Ich denke jeden Tag an euch.

Aus dem östlichen Außen grüßt, die Gatzingerin