· 

never-ending Story?

Vor etwas mehr als einem Jahr ist das kleine, bis dato unbekannte Coronavirus in unser aller Leben getreten. Im Laufe des Januars 2020 drangen erste, noch unklare Berichte aus Wuhan bis zu uns nach Shanghai vor. Kurz vor Beginn der Chinese New Year Ferien begannen dann auch hier die Temperaturkontrollen und Wuhan wurde dicht gemacht. Wir sind trotzdem am ersten Ferientag mit einem Fieberkind und ganz viel Unruhe im Bauch wie geplant zum Heimatbesuch nach D geflogen, inclusive strengster Kontrollen an einem gespenstischen, leeren Shanghaier Flughafen und einem deutschen Flughafen im Normalbetrieb, der die Existenz und Gefahr des Virus damals noch komplett ignorierte. Nach einigem Hin und Her war das Gesundheitsamt in D dann doch irgendwann bereit, dem Fieber-Junior einen Corona-Test zu ermöglichen, der Gott sei Dank negativ war.

 

Dann ging es zunehmend rund in China. Wir haben aus der Ferne etwas besorgt gen Osten geschaut, aber nach gut 3 unruhigen Wochen des Überlegens und Abwägens sind wir gemeinsam wieder nach Shanghai geflogen, wo uns eine komplett ausgestorbene Millionenstadt erwartete. Ab Mitte März entspannte sich die Situation in Shanghai und das Leben kehrte langsam auf die Straßen zurück, während die Situation in Deutschland genauso langsam wie sicher aus dem Ruder lief. China verhängte zuerst strengste Einreisesperren aus dem Ausland und etwas später streng staatlich kontrollierte Quarantäne für alle Einreisenden. Mitte Mai durfte die Schule nach 16 Wochen unter vielen Auflagen endlich wieder ihre Pforten öffnen. Alle für den Sommer geplanten Reisen nach Deutschland wurden gecancelt, das Reisen in China war allerdings wieder möglich. Auch nach den Sommerferien läuft die Schule offline weiter, was mir besonders wichtig ist. Dafür halte ich meinen Bewegungsradius gerne klein. Das Reisen auch innerhalb Chinas wird immer mal wieder eingeschränkt, dann gelockert und wieder eingeschränkt. Eine Weihnachts-Reise in die Heimat zu Freunden und Familie haben wir aus zweierlei Gründen verworfen: Die Situation in Deutschland im "Lockdown" hätte es uns unmöglich gemacht, all die lieben Menschen zu treffen, die wir hätten sehen wollen und bei der Wieder-Einreise in China hätten wir 2 Wochen in einem Hotelzimmer in Quarantäne gemusst, inclusive 3 oder 4 Coronatests. Im Hinterstübchen lauert dabei auch immer die Frage: Was passiert, wenn einer der Tests dann doch positiv ausfällt? Dem Junior war es außerdem sehr wichtig pünktlich zum Schulstart frei beweglich vor Ort zu sein. So sind wir lieber da geblieben. Immerhin konnten wir die erste Ferienwoche in einem schönen, einsam gelegenen Hotel am Meer genießen und unsere etwas gebeutelten China-Akkus wieder aufladen.

 

Der Blick nach Deutschland, nach Europa geht oft mit Verwirrung, ja Verwunderung einher. Erst bringen Masken nix, dann vielleicht doch, dann endlich für alle verpflichtend. Geschichten über Maskenverweigerer, Corona-Leugner und Mir-doch-egal-Einstellungen auch von Menschen, die ich kenne, lassen mich im Laufe des vergangenen Jahres darüber nachdenken, welcher seltsame Freiheitsbegriff dahinter stehen mag. Freiheit ist gut und wichtig, aber nur wenn das Miteinander nicht darunter leidet. Ich hatte immer mal wieder das Gefühl, dass wir in Europa eine ganz schön verwöhnte Bande sind, die viel zu oft im egozentrischen, kleinkindlichen "will-ich-aber", "jetzt sofort" "mir-doch-egal" und "das gehört aber mir" verharrt. Ich habe in den vergangenen Monaten viel mit lieben Menschen in D geschrieben und gesprochen und dabei natürlich auch die andere, die positive Seite, mitbekommen; eine Seite auf der es Zusammenhalt, Rücksichtnahme, Miteinander, Flexibilität und Ideen-Reichtum gibt. Möge Letzteres die Oberhand behalten.

 

Jetzt haben wir mittlerweile wieder Januar und das Chinesische Neujahrsfest steht erneut vor der Tür. Auch hier in China gibt es im Winter immer mal wieder lokal übertragene Corona-Infektionen, mal kleine, mal große Cluster, vermehrt im hohen, frostigen Norden des Landes und vor den Toren Pekings, aber seit dieser Woche leider auch wieder in Downtown Shanghai. Dann läuft sofort die Maßnahmen-Maschinerie an (parallel zum Gedanken-Karussell in meinem Kopf). Es werden Wohngebiete, Läden und Arbeitsstätten abgeriegelt und die dort lebenden Menschen für 14 Tage in Quarantäne gesteckt, daheim oder im Hotel, je nachdem wie die Bedingungen vor Ort sind. Kontaktpersonen werden rigoros ausfindig gemacht, getestet und ebenfalls einer strengen Quarantäne unterzogen. Hunderttausende Menschen werden innerhalb von 2 Wochen mehrfach getestet und bisher haben diese schnell und streng durchgeführten Maßnahmen die Ausbrüche immer wieder eindämmen können. Das klappt hoffentlich auch dieses Mal.

 

Nachdem wir hier in Shanghai seit dem Sommer bereits einen relativ normalen Alltag erleben konnten, wackelt und ruckelt es daher momentan wieder ordentlich. Da die chinesischen Schulen und damit die Mehrzahl der chinesischen Schüler schon regulär Ferien haben, darf unsere Schule bis dato noch geöffnet sein und offline Unterricht anbieten. Dies ist immer gekoppelt an eine Maskenpflicht außer beim Sport, auf dem Schulhof und im Klassenzimmer und an ein "geschlossenes Schulsystem", in dem nur Schüler, Lehrer und Mitarbeiter das Schulgebäude betreten dürfen. Wir drücken nun alle die Daumen, dass die Schule auch weiterhin normal weiterlaufen kann. Unser Kartenhaus ist recht instabil, aber noch steht es.

 

Je näher das Chinesische Neujahrsfest rückt und damit gleichzeitig die größte Reisewelle der Welt in Gang gesetzt wird, desto strenger werden die Einschränkungen und Regularien bei der Aus- und Einreise in andere Provinzen, vom Ausland ganz zu schweigen. Das Reisen wird nicht generell verboten, aber mit unzähligen Anforderungen wie Quarantäne und diverser Tests zumindest sehr schwer gemacht. Für die Chinesen ist das Chinese New Year von der Bedeutung her ebenso wichtig wie für uns das Weihnachtsfest. Es ist DAS Familienfest des Jahres. Viele Chinesen reisen nur dieses eine Mal im Jahr in ihre Heimatorte zur Familie; manche sehen auch ihre Kinder nur dieses eine Mal im Jahr. Für all diese Menschen ist es natürlich bitter, dass sie dieses Jahr wahrscheinlich dort bleiben werden, wo sie wohnen und arbeiten. Ihr "Weihnachten" wird Dank Corona auch in diesem Jahr anders aussehen als gedacht, geplant, erhofft und erwünscht.

 

Hatten wir nicht alle viel Hoffnung in das Jahr 2021 gesteckt. Eine sehr hohe Erwartungshaltung, die bestimmt nicht leicht zu erfüllen sein wird. Meine persönlichen Erwartungen habe ich schon herunter geschraubt. Das Wichtigste ist mir, dass der Junior auch weiterhin gemeinsam mit seinen Klassenkameraden offline in der Schule lernen, arbeiten und sporteln kann. Ich wünsche mir sehr, dass sich die Lage sowohl hier im Land als auch weltweit möglichst schnell entspannt, was hoffentlich mit ausreichend verfügbarem Impfstoff, steigenden Temperaturen und zunehmender Vernunft und Gemeinsinn möglich sein wird. Dann könnten wir nämlich frohen Herzens nach eineinhalb Jahren Abwesenheit im Sommer mal wieder nach Deutschland zu Freunden und Familie reisen. Das wäre schön. Aber so richtig dran glauben mag ich noch nicht. Ich lass mich einfach überraschen.

 

Schräge Zeiten. Wer hätte das gedacht?

Aber nicht nur schlechte Zeiten. Ganz bestimmt nicht. Wir alle hatten wieder einmal die Chance uns selbst als Person, uns als Familie sowie Freunde und Bekannte von einer anderen, vielleicht neuen Seite kennenzulernen. Jeder hatte die Möglichkeit seine Prioritäten und Ansprüche nachzujustieren oder gar neu zu ordnen und das kann nie schaden. Die Umwelt hat sich bei uns übrigens schon persönlich bedankt, dass wir all die vielen, natürlich viel zu vielen geplanten Langstreckenflüge rund um den Erdball nicht angetreten sind, auch wenn wir dazu quasi gezwungen werden mussten. Asche auf mein Haupt - Ich gelobe Besserung - von jetzt an hoffentlich wieder freiwillig statt unter Zwang.

 

In diesem Sinne gehen wir weiter auf dem Weg und holen einfach aus jedem Tag das Beste raus. Möge das kleine Virus diesen Weg schon ganz bald nicht mehr kreuzen. Möge die never-ending Story dann doch ein überraschend schnelles Ende finden. Ich wäre dann jetzt bereit.


Herzlichst, die Gatzingerin