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1933 Shanghai

Frau Nachbarin und ich waren wieder einmal unterwegs. Unser Ziel war ein im Jahr 1933 fertig gestellter Schlachthof aus Beton. Von britischen Architekten geplant und komplett im Art Deco Stil errichtet. Ein viereckiges äußeres Gebäude umgibt ein zentrales, rundes Gebäude im Inneren. Die beiden Gebäudeteile sind durch unzählige Brücken und Gänge miteinander verbunden, die sich meist zur Mitte hin verjüngen, um den Zustrom der dem Tode geweihten Rinder und Bullen zu regeln. Einige Brücken sind so schmal, dass gerade einmal ein Mensch hindurch passt und dienten den Arbeitern als Fluchtwege, falls die Tiere in Panik geraten würden. Die Wände sind 50cm dick und innen hohl, was sowohl im heißen Shanghaier Sommer als auch im feuchtkalten Winter die Raumtemperaturen relativ konstant halten sollte. Dazu eine Fassade voller Löcher, die den Windstrom verstärkten und somit einerseits frische Luft ins Innere bringen und andererseits die unangenehmen Schlachthof-Gerüche abtransportieren sollten.

 

Das 1933 war einst der modernste und größte Schlachthof in Fernost. Später diente es als Produktionsstätte für chinesische Medizin, anschließend als Lagerhaus bis es irgendwann so verfallen war, dass die Stadt den Zutritt komplett versperrt hat. Vor einigen Jahren wurde es renoviert, restauriert und herausgeputzt, ohne seinen eigenwilligen Charakter einzubüßen. Es finden sich dort Cafés, kleine Läden, Ausstellungsräume, Bars, kitschige Torten-Manufakturen, ein kleines Museum, ein Poledance-Studio, Co-Working-Spaces und wahrscheinlich viele andere Dinge, die sich für mich unsichtbar hinter den verschlossenen Türen abspielen. Aber allein das Gebäude ist einen Besuch wert. Man läuft leicht desorientiert durch die Gänge und von einem Stockwerk zum nächsten und fragt sich dabei immer wieder: "Waren wir hier nicht schon?", "Ich weiß es nicht.", "Nein - Doch?!" Ein kleines Labyrinth, was die Anfahrt auf jeden Fall wert ist.

Im Anschluss haben wir uns noch durch die umliegenden Gassen treiben lassen. Blauer Himmel, es weht eine frische Brise und die Wäschestangen an den Straßenrändern waren voll bis oben hin mit Klamotten, Bettdecken oder Kuscheltieren. Es war Waschtag in Shanghai. Wir haben uns an die kleineren Gassen gehalten, wo die alten Häuserzeilen meist noch recht intakt waren. Aber auch in Hongkou wird an allen Ecken und Enden gebaut, gebaggert und abgerissen. Auch dort entsteht immer mehr modernes Glitzer-Shanghai und die historischen Straßenzüge verschwinden leider zunehmend. Hier noch ein Hochhaus, dort noch eine Mall. Irgendwie schade, aber irgendwie auch verständlich, denn die hygienischen Zustände in den alten Häusern sind meist nicht mehr wirklich zeitgemäß. Ich möchte ja auch nicht morgens mit meinem Nachttopf durch die Gassen zum Entleeren laufen.

Am Schluss des Tages fanden wir uns in der Hochhaus-Glitzer-Welt am Nordbund wieder mit Blick auf die allgegenwärtige Skyline von Pudong. Ein Tag voller Kontraste. Moderne Wolkenkratzer und alte Häuserzeilen direkt nebeneinander. Die Wärme der Frühlingssonne und die zugige Kälte innerhalb des Betonklotzes. Strassenkarren mit eiernden Rädern und schnelle Autos teilen sich die Strassen von Shanghai und wir irgendwie und irgendwo mittendrin. Manchmal erscheint es mir normal, manchmal wirkt es immer noch ein bisi surreal.

 

Ich sende euch liebe Grüße,

die Gatzingerin