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Reisen mit Hindernissen

Vor den Sommerferien war es in Shanghai bereits wieder ziemlich locker, was Corona, unseren Alltag und damit auch das Reisen an ging. Selbst die Schule hatte in Richtung Sommerferien immer mehr Lockerungen einführen können, das Sommerfest durfte stattfinden und auch zu manch anderen Veranstaltungen war die Anwesenheit der Eltern auf dem Schulgelände nach Anmeldung und mit grünem Health Code erlaubt.

 

Damit ist jetzt allerdings wieder Schluss. Seit Mitte/Ende Juli haben sich wieder ein paar unberechenbare Delta-Viren heimlich via Moskau auf den Weg nach Nanjing gemacht, sind mit dem Personal dem Flughafengelände entschlüpft und treiben seitdem ihr Unwesen. Von Nanjing aus haben sie sich in vielen weiteren Provinzen und Städten ausgebreitet und die Verantwortlichen in China treten natürlich sofort ordentlich auf die Bremse - in einigen Fällen taten sie dies nicht, mit der Konsequenz, dass sie mittlerweile nicht mehr verantwortlich sind und ausgetauscht wurden. Da endete spontan die ein oder andere Karriere.

 

So kommt es im Freundes- und Bekanntenkreis rund um uns herum seit Ende Juli vermehrt zu Stornierungen oder Umbuchungen der geplanten Sommerreisen. Eine Familie wollte beispielsweise nach Zhangjiajie in die Avatarberge reisen und bekam einen Tag vor Reiseantritt mitgeteilt, dass ihr gebuchtes Hotel unter Quarantäne stehen würde, da sich dort eine infizierte Familie aus Nanjing aufgehalten hatte. Sie könnten aber gerne auf eine anderes Hotel ausweichen. Gott sei Dank haben sie dankend abgelehnt, denn bereits einen Tag später stand die komplette Stadt unter Quarantäne, alle Sightseeing Plätze waren geschlossen und Corona-Massentests standen auf der Tagesordnung. Niemand durfte die Stadt mehr verlassen. Darunter auch ein Kollege vom Gatzinger, der dort nun mindestens 14 Tage festhängt und sollte er irgendwann zurück nach Shanghai reisen dürfen, erwarten ihn hier wahrscheinlich weitere 14 Tage zentrale Hotelquarantäne, da er aus einem Hoch-Risiko-Gebiet zurück kommt. Happy Holidays.

 

Nach mittlerweile gut 3 Wochen mit täglichen Berichten von neuen, lokal übertragenen Infektionen ebbt die Mini-Welle langsam ab. Die Zahlen sind im Vergleich zu anderen Ländern natürlich verschwindend gering, aber für China mit der Null-Toleranz-Strategie sind auch 31, 66 oder gar 89 tägliche Fälle erschreckend viel. Und dieses aus chinesischer Sicht "viel zu viel" hat ziemlich schnell ziemlich viele neue Maßnahmen zur Folge. Das macht die Situation hier sehr unberechenbar, besonders wenn man sich gerade irgendwo im Land von A nach B bewegt. Die Region oder Stadt in der ich unterwegs bin, ist vielleicht heute auf grün gesetzt, aber morgen oder nächste Woche kann das schon ganz anders aussehen und dann hängt man leider fest.Genauso wenig weiß ich, wo der Mensch, der im Flugzeug hinter mir sitzt, die letzten Tage so war und wie es ihm übermorgen geht. Gefühlt sitzt man ständig auf einem klitzekleinen Pulverfass und versucht trotzdem die Gedanken frei und die Bälle flach zu halten.

 

Manche hatten das Glück (oder die weise Voraussicht) gleich zu Beginn der Ferien zu reisen und hatten ihre Ruhe. Andere haben beschlossen in der unsicheren Situation lieber komplett daheim zu bleiben und haben alle Reisepläne auf Eis gelegt. Wir wollten es aber unbedingt versuchen, da es mit unserem Tibet-Permit relativ gut aussah und wir die rare Chance nutzen wollten, diesen wunderbaren Landstrich zu besuchen, wenn irgendwie möglich. Gott sei Dank waren wir alle einer Meinung diesbezüglich, auch wenn wir wussten, dass uns einiges an Tests und Kontrollen bevorstehen würde.

 

Für die Reise mussten wir insgesamt 7 PCR-Tests absolvieren. Einen für das Permit, einen vor jedem Flug und den Rest, wie es den Offiziellen beliebte. Mal Rachen, mal Nase, mal beides. Die jeweils mit dem Test verbundenen Kommunikations-Schwierigkeiten und das ewige Anstehen und Warten war allerdings wesentlich nerviger als die Tests an sich.

 

Weiterhin gibt es zur Kontrolle meiner Aufenthaltsorte den Health Code, den ich auch zu "normalen" Corona-Zeiten regelmäßig per App generieren und vorzeigen muss, wenn ich ein Museum besuchen möchte oder den Bahnhof betreten muss. Hat mein Code eine andere Farbe als grün, dann habe ich ein Problem - keine Ahnung welches - will ich auch gar nicht wissen. Eigentlich sollte der Health Code einer Provinz auch in den anderen Provinzen gelten, aber de facto hat fast jede Provinz gefühlt ihren eigenen Code, den man unter Stress und Aufregung an fremden Flughäfen oder beim Einchecken im Hotel dann neu erstellen muss: QR-Code scannen, versuchen die chinesischen Zeichen zu entziffern, bei manchmal freundlichen offiziellen Menschen, die in der Regel wenig bis kein Englisch sprechen, irgendwie um Hilfe bitten und hoffen, dass der neue Code dann ebenfalls in grüner Farbe auf dem Display erscheint. Hat Gott sei Dank bisher immer geklappt, trotzdem ist und bleibt diese Situation für mich unangenehm, weil ich nie weiß: Was passiert, wenn es nicht klappt? ...wenn das Display plötzlich in gelb oder rot leuchtet?

 

Bei all den Codes gibt es seit Kurzem aber auch noch etwas Neues. Ein WeChat-Miniprogramm, das einen (hoffentlich stets) grünen Pfeil generiert, den sogenannten Travel-History-Record. Dort steht dann genau aufgelistet in welchen Städten ich mich innerhalb der letzten 14 Tage aufgehalten habe. Es ist ebenfalls mit Sternchen* vermerkt, wenn es in der Stadt zu dem relevanten Zeitpunkt irgendwo medium oder high risk areas gibt. Mir bleibt es dann überlassen, dem mir mehr oder weniger wohlgesonnenen Kontrolleur zu erklären, ob ich mich den gefährdeten Gebieten genähert habe oder nicht und warum nicht und überhaupt, wo ich denn wohnen würde und ob ich da auch sicher sei... das Ganze natürlich selten in fließendem Englisch. Es ist und bleibt eine Herausforderung. Und wenn jetzt jemand beim Lesen an das verrückte Wort "Datenschutz" denken mag, dem sei gesagt, dass es das Wort auf Chinesisch entweder nicht gibt oder zumindest eine leicht abgewandelte Bedeutung hat.

 

Wir wollten im Anschluss an unsere 7 Tage in Tibet direkt weiter an den tropischen Strand von Hainan fliegen und eine Woche die Zehen in den Sand bohren, baden und die Gedanken schweifen lassen. Aus Shanghai kam dann aber irgendwann die Nachricht, dass ein komplettes Hotel in der Nähe unserer kleinen Bucht unter Quarantäne stehen würde, weil sich dort die Kontaktperson von wem auch immer aufgehalten hat. Das Risiko dass sich die Situation ausweiten oder verschärfen könnte, war uns dann doch zu groß. Wir hatten bereits so viel Glück gehabt mit unseren Tagen in Yunnan und Tibet, dass wir das Glück nicht weiter herausfordern wollten. So haben wir Hotel, Flug, Strand und Meer gecancelt und sind von Lhasa direkt zurück nach Shanghai geflogen. Es war tatsächlich ein gutes Gefühl in Shanghai aus dem Flieger zu steigen und zu wissen: Hier kenne ich die Spielregeln. Ich weiß, welchen Code sie sehen wollen. Ich weiß, dass sich in dieser Stadt so viele Ausländer herumtreiben und daher etwas mehr Menschen Englisch sprechen. Ich weiß, dass das bunte Shanghai etwas weltoffener und lockerer ist, als ich es je woanders in China erlebt habe. Das fühlt sich gut an.

 

Viele Chinesen sagen uns immer wieder, dass es doch gut ist, dass wir momentan, also seit 18 Monaten ununterbrochen in China sind, denn hier sei es ja viel sicherer und wir müssten weniger Angst vor dem Virus haben. Da mögen sie vielleicht recht haben was das Virus betrifft. Besonders auch was die Schulsituation im vergangenen Schuljahr an geht. Aber was mich gerade jetzt nach dem Urlaub beschäftigt, ist das genaue Gegenteil von Sicherheit. Nämlich die komplett fehlende Sicherheit, welche Regeln, die gestern galten, heute schon wieder überholt sein könnten und morgen sieht es dann vielleicht noch mal ganz anders aus. Diese beständige Ungewissheit hinterlässt bei mir alles andere, aber bestimmt kein Gefühl von Sicherheit. Aber die Menschen hier im fernen Osten sehen das irgendwie anders. Für die scheint das so zu passen, wie es ist. Für mich eher weniger, Tendenz abnehmend.

 

Jetzt bleibt uns noch zu hoffen, dass in den 14 Tagen nach dem Urlaub nicht plötzlich das Telefon klingelt und mir jemand versucht zu erklären, dass in meinem Flieger oder Hotel vor 10 Tagen jemand war, der.... Aber ich denke positiv. Wir genießen jetzt die letzten 2 Wochen Ferien in Shanghai (bei Regenwetter...), bevor uns Ende August der Alltag wieder hat.

 

Draußen tröpfelt es fast non-stop. Drinnen gibt es Tee und Marmorkuchen.

Seid lieb gegrüßt und habt es fein.

die Gatzingerin