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Gatzinger Wiesn

In Shanghai herrscht im Grunde kein Mangel an Oktoberfesten. Im Gegensatz zu München auch nicht zu Corona-Zeiten. Es gibt da im Laufe des Septembers und Oktobers diverse Wochenend-Wiesn-Tage im Paulaner Brauhaus und dann noch eine entfernt Wiesn-ähnliche Veranstaltung in einem wahnsinnig ungemütlichen Saal im Interconti. Durch die Einreisebeschränkungen in China war es aber die letzten 2 Jahre nicht möglich, die klassische Wiesnband aus München einzufliegen und so versuchte sich bereits im vergangenen Jahr eine Pseudo-Wiesnband mit sehr osteuropäischen Akzent an bayrischen Liedern, was bei den Besuchern meist mehr Leid als Freud' mit sich brachte. Letztes Jahr waren der Gatzinger und seine Kollegen demzufolge so enttäuscht von ihrem Wiesn-Abend im Paulaner, dass sie beschlossen, sich das Ganze dieses Jahr nicht noch einmal anzutun.

 

So kam es, dass im Juni der Gedanke geboren wurde, eine eigene Wiesn zu veranstalten. Eine Gatzinger Wiesn bei uns im Keller. Die Idee fand bei immer mehr Leuten Anklang (allerdings bei mir zu Beginn nicht wirklich, ich gebe es offen zu!) und so wurde aus einer kleinen Idee ein zunehmend größeres Event. Im Laufe des Sommers fanden sich spontan 4 sehr musikalische Menschen zusammen und gründeten die Wiesnband. Aus kleinen Proben im Wohnzimmer wurden Dank ständiger Bestellungen auf Taobao schnell immer professionellere Treffen mit zunehmend mehr Equipment. Der eine kaufte sich sogar eine Trompete, ohne je Trompete gespielt zu haben und am Ende wurde ein Lied daraus. Dazu kamen größere Soundanlagen, Lichtanlagen, neue Gitarren und schlussendlich auch noch ein ordentliches Schlagzeug für den bayrischen Mexikaner mit dem Rythmus im Blut. Es machte irre Spaß der Entwicklung zuzusehen und bereits die erste Bandprobe der "los Bavaros" vor Ort im Braukeller Ende September war super. Aber kein Vergleich zu dem was sich dann auf der "echten" Wiesn abspielte. Die Eigendynamik war unglaublich, ebenso die Freude aller Beteiligten an der Sache.

 

Der Braumeister Gatzinger war seit Ende Juni schwer damit beschäftigt, seine Bierlager zu füllen. Am Ende lagerten 7 verschiedene Biere verteilt auf 3 Kühlschränke und reiften vor sich hin. Bis dahin war es aber ein langer Weg, der auch den ein oder anderen Rückschlag mit sich brachte. Eine Charge Bier explodierte während des Gärprozesses lautstark bei uns im Keller, es schepperte gewaltig und die Scherben sind erstaunlich weit geflogen. Man bedenke auch den aufdringlichen Biergeruch, der tagelang durch den Keller waberte. Ein anderes Bier wollte mit der ersten Gärung nicht so recht in Gang kommen und landete schlussendlich im Ausguss und ein drittes Bier verhungerte anscheinend während der Flaschengärung und hatte teilweise kaum Kohlensäure. Aber die restlichen 7 Biersorten waren zur Freude des Braumeisters der Hammer und fanden reißenden Absatz und großen Anklang bei den Wiesnbesuchern. Der Gatzinger kann zu Recht stolz auf seine Ware blicken und sogar ich habe entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten 3 Sorten probiert und wirklich und ehrlich als sehr schmackhaft befunden. Vielleicht habe ich sogar 2-3 zu viel getrunken...

 

Der dritte wichtige Punkt der Vorbereitung war die Deko. Auch da hat Taobao, die online-Shopping Plattform für alles und nichts, dem Gatzinger stets treu zu Diensten gestanden und ihn mit allen möglichen blau-weißen-Rauten-Artikeln versorgt. Nicht immer waren sie "original", aber die gute Absicht war stets klar erkennbar. Ich glaube, 3 mal hat er im Laufe der Zeit verkündet: "Jetzt ist die Deko fertig." Doch er brauchte dann plötzlich noch mal 50m blau-weiße Wimpelketten oder 50m Sternchenlichterketten oder noch mehr karierte Tischdecken. Alles made in China, alles billig bis billigst und innerhalb kürzester Zeit landeten die gewünschten Sachen bei uns vor der Haustür. Es wurden sogar große Mengen an Servietten, Bierdeckeln und Biergläsern mit dem eigenen Gatzinger-Bräu-Logo im Keller gesehen. Taobao kennt da fast keine Grenzen. Mit viel Enthusiasmus und seinem ihm innewohnenden Perfektionismus hat der Gatzinger sich der Verwandlung unseres Kellers vom Abstell- und Tischtennisraum zum Wiesn-Festzelt gewidmet und es ist grandios geworden. Sogar unsere Vermieterin war bei dem Anblick begeistert. Selbst der eigentlich fürchterlich hässliche Keller-Innenhof unter der Glasterrasse wurde mit Kunstrasen, Deko und Gartenmöbeln zum Biergarten umfunktioniert. Wer also demnächst in Shanghai eine irgendwie bayrisch angehauchte Party plant, der melde sich bitte bei uns: Wir hätten da so einiges an passender Deko gratis abzugeben...

 

Die erste, letzte und einzige Gatzinger-Wiesn der Welt war eigentlich für Ende Oktober geplant. Leider zeichnete es sich im September ab, dass der Bassist der "los Bavaros" zu dem Zeitpunkt aufgrund seiner Reise nach München noch in Quarantäne sein würde und so musste die Wiesn auf das erste November-Wochenende geschoben werden. Wiesn in China geht auch im November! Da ist man sehr flexibel. Die letzten 2 Wochen vor DEM Event steigerte sich die Spannung immer mehr. Biertische und -Bänke wurden geliefert, im WeChat-Wiesn-Chat war die Vorfreude der Gäste spürbar, dann am Freitag Abend die letzte Bandprobe vor vollendeter Kulisse und plötzlich war er da, der Tag auf den der Gatzinger und viele andere so lange hingefiebert und hingearbeitet hatten.

 

Beim Wiesnwirt war eine gewisse Anspannung spürbar, als die gut 40 Gäste am Nachmittag nach und nach eintrafen. Aber der Tag verlief bestmöglich und alle hatten eine Mordsgaudi. Ich hatte das Gefühl, dass alle Anwesenden durch die fehlenden Reisemöglichkeiten in die Heimat einfach total ausgehungert waren nach einem gewissen Dahoam-Gefühl. Es herrschte von Beginn an eine freudig-aufgeregte Stimmung und jeder hatte einfach total Bock, sich auf diese Wiesn-Stimmung einzulassen. Lara, die Haus- und Hoflieferantin der Familie Gatzinger, hat sich bestens um das Catering gekümmert und zuerst bunte Brotzeitbrettl mit Fingerfood sowie am Abend Schnitzel und Kartoffelsalat geliefert. Es war wirklich eine ganze Menge Essen und ich sah mich schon wie Oma früher den Gästen kleine Essenspakete zum Mitnehmen in die Hand zu drücken, aber nach 10 Stunden Rambazamba und Rumtata waren tatsächlich fast alles Teller und Schüsseln leer gefuttert.

 

Neben den verschiedenen Bieren war natürlich die Wiesnband einer der absoluten Höhepunkte der Feier. Als aus der Taobao-Trompete das erste mal " Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit" ertönte, gefolgt von einem 3-fachen "Die Krüge....HOCH!" habe ich tatsächlich einige sehr gerührte Gesichter gesehen und man konnte praktisch zuschauen, wie sich diese tolle und besondere Wiesn-Stimmung entwickelt hat. Es wurde getanzt, lauthals mitgesungen, gelacht und geschunkelt und die Gatzinger Wiesn scheint wirklich alle in ihren Bann gezogen zu haben. Einem sehr gerührten Braumeister wurde die Medaille für das beste Wiesnbier 2021 verliehen und als Präsent bekam er seine persönliche "Gatzinger-Bräu"-Leuchtreklame geschenkt. So viele Menschen haben sich für diesen Tag so viele tolle Sachen ausgedacht, dass es wirklich ein ganz besonderes Fest wurde. Als nachts um 1 Uhr dann die letzten 4 heiteren Gäste im Didi Richtung Innenstadt abgebraust sind, sass ich mit meinem müden, leicht betrunkenen und sehr emotionnalen Gatzinger unten im Festzelt-Keller und aus heiterem Himmel sagte er mit feuchten Augen zu mir: "Es ist so schade, dass meine Jungs daheim das nicht miterleben konnten!" Und ja, da hat er Recht. Es ist einfach schade, dass niemand zu Besuch kommen kann, dass niemand für eine kurze Zeit in unser Shanghai-Leben hinein schnuppern kann. Irgendwie leben wir Expats hier in China seit fast 2 Jahren gefühlt ein bisi außerhalb vom Rest der Welt. Das ist nicht schön. Das nervt auch zunehmend - uns und viele andere ebenso. Aber genau deshalb hat diese Party allen Beteiligten so irre viel Spaß gemacht und gut getan. Die Gatzinger Wiesn kam genau zur richtigen Zeit und bildet tatsächlich einen der Höhepunkte unserer Monate hier in Shanghai. "Der Himmel der Bayern" war für ein paar Stunden auch von China aus zu sehen.

 

Ich richte heute einen ganz besonderen Gruß Richtung Ammersee.

Ich freu mich jetzt schon auf das erste Bier im Biergarten dahoam, den ersten Blick auf die Zugspitze am Horizont und den ersten Sprung in den sommerlichen See.

Noch 8 Monate. Also, alles Liebe und auf ganz bald!

die Gatzingerin