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Mein Atlantis

Vorgestern sagte der Gatzinger: "Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr so genau, wie das in Deutschland so ist!" Der Satz klang zuerst einmal schrecklich in meinen Ohren. Ich dachte, das ist doch noch alles wie immer, wie vorher, wie wir es kennen. Aber das stimmt wahrscheinlich gar nicht, zumindest nicht in allen Bereichen. Es hat sich in den letzten 2 Jahren auch dort so viel verändert: die Situation mit dem Großen C, die neue Normalität, der andere Alltag und der persönliche Umgang miteinander. Vieles was allen immer selbstverständlich war, gilt vielleicht gar nicht mehr oder zumindest etwas anders als zuvor.

 

Mir kam dann spontan der Gedanke an Atlantis. Eine fernes Land, das es vielleicht mal gab, vielleicht noch gibt, irgendwo. Keiner kann sich richtig erinnern, keiner weiß genau wo, und wie man dahin kommt schon mal gar nicht. Es gibt Gerüchte und Vermutungen, aber was genau stimmt und was falsche Erinnerungen sind... wer weiß das schon. Der Vergleich Deutschland - mein persönliches Atlantis ist natürlich weit hergeholt, aber er schwirrte halt in dem Moment durch meinen Kopf und hat mich Gedanken denken lassen. Eine Situation vor Ort zu erleben ist immer anders als sie erzählt zu bekommen oder darüber in der Zeitung zu lesen. Ich habe eine kleine Idee von dem großen Ganzen, aber mehr auch nicht. Die Realität kenne ich nicht. Genauso wenig weiß ich, wie sich das Leben in Deutschland seit fast 2 Jahren anfühlt. Wir hier in China werden die Corona-Zeit am Ende völlig anders in Erinnerung haben als Freunde und Familie in Deutschland. Da leben wir gefühlt auf zwei völlig verschiedenen Planeten, die allerdings beide zur Zeit recht viele unschöne Facetten aufweisen.

 

Vor ein paar Tagen saß ich mit einer im Sommer nach Shanghai eingereisten Frau bei uns am Küchentisch. Sie ganz neu hier, alles noch sehr spannend und frisch. Ich dagegen schon etwas zu lange nicht mehr außerhalb von China gewesen und mit den Gedanken bereits teilweise auf die Ausreise ausgerichtet. Zwei Welten. Ich sehe die Enge, die Reiseeinschränkungen, das Vermissen, die vielen Kontrollen, die China-Überdosis. Sie dagegen fühlt sich nach den 3 Wochen strengster Hotel-Quarantäne viel freier und lockerer als in Deutschland zuletzt. Hier macht sich seit 1,5 Jahren niemand Gedanken, wen man jetzt umarmen darf und wen nicht. Alle werden einfach umarmt, wenn der Wunsch da ist. Es dürfen Partys stattfinden ohne Personenzahlbegrenzungen, die Kids tragen in Kita und Schule keine Masken, können ungehindert Sport machen, so wie es sein sollte, Restaurants haben offen und das alltägliche Leben ist meist entspannt. Diese recht normalen und natürlich positiven Seiten des Alltags fallen mir schon fast nicht mehr als "besonders" auf. Das ist halt so in China, im Normalfall, auch zu Coronazeiten. Was mich dagegen mehr beschäftigt ist, auf welch wackeligen Füßen dieser "Normalfall" steht. Er kommt mir vor wie ein instabiles Kartenhaus, was ständig in Gefahr ist, durch Kleinigkeiten zum Einsturz gebracht zu werden.

 

So ein Tag der "Kleinigkeiten" war gestern! Die Woche war voll mit Vorbereitungen für den Adventsmarkt an der Schule, gebrannte Mandeln, Glücksrad und Gewinne mussten vorbereitet werden. Die einzige Sorge war, dass der Junior die Woche angeschlagen im Bett statt fit in der Schule verbracht hat. Ich hatte Gedanken, wie "puh, was bin ich froh, wenn dieser Markt endlich durch ist und all die Sachen erledigt sind." Seit gestern Nachmittag hab ich eher den Gedanken "puh, ich bin froh, wenn der Markt überhaupt stattfinden darf" ...und wir am Ende nicht mit gut 7 kg gebrannten Mandeln dastehen.

 

Gestern Nachmittag sickerte langsam per WeChat durch, dass in Shanghai ein neuer, lokal übertragener Coronafall gefunden wurde. Erste Unruhe. Am Abend gab es dann eine Pressekonferenz mit weiteren Infos: Es sind 3 lokale Fälle. 2 Compounds recht weit weg, drüben in Pudong, sind abgeriegelt und stehen komplett unter Quarantäne. Und weiterhin ein Compound von Fall no.3 bei uns im Distrikt. Na herzlichen Glückwunsch! Dann stelle ich mir wieder den Blick aus Deutschland vor: "Ach, nur 3 Fälle und die machen sich solche Gedanken. Bei uns dagegen...!" Genau es sind nur 3 Fälle! Aber was uns Familien hier in China dann immer sofort umtreibt, sind die möglichen Konsequenzen, die daraus entstehen können. Hatte man vielleicht irgendwie, irgendwo die letzten Tage Berührungspunkte mit einem der bestätigten Fälle? Oder mit einer Kontaktperson? Gleicher Bus? Beim Einkaufen? In der Metro? Jetzt geht nämlich das Tracking los: Wo waren die 3 Menschen die letzten 2 Wochen, wen haben sie getroffen, wo waren sie essen, einkaufen, spazieren? Mittlerweile kann man online genau nachlesen, wann sie wo gewesen sind inclusive Zugnummern, Restaurants und Orte die besucht wurden. Aus den gefundenen Kontakten haben sich noch 3 weitere bestätigte Fälle in den beiden Nachbarprovinzen ergeben. Nach nur einem Tag wurden über 50.000 Personen identifiziert und einem ersten Coronatest unterzogen; bisher Gottseidank alle negativ, aber einige weitere Tests werden folgen. Die engeren Kontaktpersonen sind seit gestern bereits alle in zentraler Hotelquarantäne gelandet. Die Maschinerie läuft und ich finde es irre und irgendwie auch sehr erschreckend mit welcher Präzision hier im Land die Kontaktverfolgung möglich ist.

 

Wir haben natürlich seit gestern auch wieder ein *Sternchen* in unserem Travel-Pass-Miniprogramm. Bevor man ein Flugzeug oder einen Zug besteigen darf, muss dieser "Grüne Pfeil" zusätzlich zum Grünen Healthcode auf dem Handy vorgezeigt werden. Dort steht genau, in welchen Städten man sich die letzten 14 Tage aufgehalten hat. Hat man nun zusätzlich zu den Ortsnamen noch ein *Sternchen*, darf man manche Orte gar nicht betreten, manche nur mit aktuellem PCR Test. Es bleibt also abzuwarten, was mit dem geplanten Urlaub Mitte Dezember wird. Wir werden es erfahren, irgendwann und uns bis dahin in Geduld üben. Wieder einmal. Auch wenn ich keinen Bock mehr auf Geduld und Abwarten und Plan XYZ habe. Aber wem sage ich das. Die Situation ist ja in Atlantis, ähh... Deutschland nicht anders. Das Gleiche in Grün also.... Da wären wir dann wieder bei "Die andere Wiese ist auch nicht grüner!" ...auch wenn sie aus der Distanz manchmal leuchtend, sommerlich grün und sehr verlockend wirkt.

 

Es ist alles nicht zu ändern. So war ich heute früh beim Yoga, habe mich auf der Matte geerdet und mich dann zuhause in meine innere Immigration begeben. Von oben kommen Gitarrenklänge vom nur noch leicht kränkelnden Junior herunter, neben mir dampft heißer Ingwertee und ich harre der Dinge die da kommen... oder hoffentlich auch nicht.

 

Ich sende heute herzliche Grüße an meine herzallerliebsten Bewohner von Atlantis.

Und ja, ich weiß, eure Wiese ist gerade genauso wenig grün wie meine chinesische Wiese.

Seid fest in den Arm genommen da drüben!

die Gatzingerin