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The Real Lockdown

Es hatte sich Ende März durch die Einmischung von "ganz oben" ja bereits angekündigt, dass Shanghai verschärfte Maßnahmen bevorstehen würden. Das Zaubereiministerium in der Hauptstadt hatte beschlossen, den recht liberalen, aus meiner Sicht realitätsnahen Kurs seitens der Stadt Shanghai nicht länger hinzunehmen und hat die strenge und spaß-befreite Mrs. Umbridge zur Übernahme der kompletten Kontrolle rüberfliegen lassen. Seither schweigen die eigentlichen Offiziellen der Stadt und wahrscheinlich sind einige von ihnen mittlerweile nicht mal mehr offiziell Offizielle. Ihr versteht schon...

 

Der neue Fahrplan sah vor, dass die Pudong-Seite von Shanghai am 28.3. in einen 4-tägigen Lockdown inklusive diverser PCR-Tests gehen sollte und anschließend die Puxi-Seite. An dieses Märchen hat natürlich kein selbstständig denkender Mensch geglaubt und so war niemand wirklich erstaunt, dass seit dem 1. April die komplette Stadt im Lockdown steckt. Leider kein Aprilscherz auch wenn die gesamte Welt gerade ungläubig auf China blickt. Uns hier draußen am westlichen Stadtrand ergeht es in diesem Lockdown eigentlich recht gut. Anders sieht die Angelegenheit in den Hochhäusern der Stadt aus oder in den kleinen Gassen, wo viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben, es oft nur eine gemeinsame Küche und wenig Raum für Vorräte gibt. Da Mrs Umbridge und ihre Entourage es versäumt hatten, vielen Lebensmittelläden online und offline eine Lizenz zum Arbeiten zu geben, war von einem Tag auf den anderen die Versorgung mit Lebensmitteln schwierig geworden. Mittlerweile versucht die Regierung die Menschen direkt mit Nahrungsmitteln zu versorgen, was mehr oder weniger gut klappen soll und gerne auch mal am eigentlichen Bedarf vorbeigeht. Aber hey, wer freut sich nicht über 2kg PakChoy, 30 Eier und 5 große Zwiebeln? Innerhalb der Compounds haben sich oft Group-Buying-Systeme entwickelt. Viele Menschen tun sich zusammen, kaufen große Mengen an A, B oder C direkt vom Lieferanten XY und bekommen ihre Sachen dann direkt zum Compoundtor geliefert, von wo die Angestellten des Compounds die Sachen gemäß der Bestelllisten an die jeweiligen Haushalte verteilen. Das macht den Einkauf recht kompliziert und ist mit viel Bildschirmzeit zur Abstimmung innerhalb verschiedener WeChat-Gruppen verbunden. Es nervt, aber funktioniert - immerhin. Von Kollegen und Freunden aus der Stadt hört man manchmal gegenteilige Geschichten, was aber sehr abhängig ist vom jeweiligen Compound und der Community vor Ort. Generell soll die Situation in Pudong schlimmer sein als in Puxi. Ich habe auch schon gehört, dass komplette LKW-Ladungen an bestellten Lebensmitteln von der Regierung beschlagnahmt werden, um sie unters Volk zu bringen. Ob bei der Verteilung immer alles mit rechten Dingen zu geht, wird vielerorts angezweifelt.

 

Positiv getestet werden möchte in China natürlich niemand, früher schon nicht und jetzt noch viel weniger. Patienten mit Symptomen landen nach wie vor im wahrscheinlich überfüllten Krankenhaus. Symptomfreie Fälle aus Platzmangel allerdings nicht mehr. Leider bleibt es weiterhin verboten, seine Krankheit zuhause auszukurieren, sogar dann, wenn man körperlich gar nicht merkt, dass man an einem schlimmen Virus erkrankt sein soll. So werden die symptomfreien Fälle im optimalen Fall in irgendwelchen Billighotels in der Stadt oder den angrenzenden Regionen untergebracht. Wenn es schlecht läuft kommt man allerdings in tendenziell eher unhygienische Massenlager, die in allen möglichen Messezentren, Schulen und Turnhallen eingerichtet werden. Sinn macht das alles nicht, der Gesundheit ist das ganz bestimmt nicht zuträglich, aber das Zaubereiministerium möchte das genau so und dann sagen alle anderen ganz beflissen Ja & Amen, schalten ihr Hirn und am besten auch ihr Gewissen ab und setzen die Regelungen 1:1 um, immer darauf hoffend, dass sie das Ganze politisch irgendwie überleben und weiterhin oben mitschwimmen dürfen. Wer Nein sagt, fliegt wahrscheinlich postwendend raus.

 

In den chinesischen sozialen Medien brodelt und kocht es ordentlich. Kaum ist ein kritischer Beitrag, ein Video, ein Text online, muss man sich beeilen ihn zu lesen, ihn eventuell zu speichern, denn die Lebensdauer der Berichte ist meist von kurzer Dauer. Spätestens am nächsten Tag tauchen dann auf den offiziellen Nachrichtenkanälen eher unglaubwürdige Texte voller Lob und Jubel zu den jeweiligen diskutierten Themen auf. Oder es wird berichtet, dass hier oder da oder dort ein Mensch ordentlich Ärger bekommen hat wegen unerlaubten Kochens in der Gerüchteküche. Als Exempel quasi: Schaut mal her, was passieren könnte, wenn.... Nicht schön. Es werden aber auch immer wieder Bilder oder Videos verbreitet, die die Menschen aufstacheln und entsetzen sollen, die aber definitiv nicht jetzt hier vor Ort enstanden sind. Von daher muss man tatsächlich vorsichtig sein und darf nicht alles für bare Münze nehmen, was hier so in den Chats und Medien kursiert. Wie daheim halt auch.

 

Einen besonders großen Aufschrei gab es, als bekannt wurde, dass Kinder ohne ihre Eltern in Quarantäne gesteckt werden. Das hat bei den Expats, aber auch bei der chinesichen Community sehr hohe Wellen geschlagen. Die ausländischen Konsulate haben geschlossen mit den Verantwortlichen der Stadt verhandelt und nun soll es wohl so sein, dass ein Familienmitglied dabei sein darf. Aber wie zuverlässig diese Aussagen alle sind, kann ich nicht sagen, ebenso wenig wie die Situation bei den chinesischen Familien aussieht.

 

Insgesamt hat dieser strikte Lockdown für unseren Compound 11 Tage gedauert. Wir mussten im Haus bleiben und durften offiziell noch nicht mal den Garten benutzen. Aber das wurde dann typisch chinesich gehandhabt: Ihr dürft nicht in den Garten, aber wenn ihr doch draußen seid, dann wird euch niemand sehen. Eine sehr sympathische Herangehensweise, die in diesem Land sehr oft zu beobachten ist. So konnten wir also immerhin das tolle, noch Mücken-freie Frühsommer-Wetter nutzen und uns auf der Terrasse, dem Trampolin oder unterm Rasensprenger herumtreiben. In diesen 11 Tagen mussten wir 4 PCR Tests und 5 Schnelltests durchführen, wobei die PCR Tests immer das Highlight waren, denn da durften wir wenigstens mal das Haus verlassen und haben auf Distanz kurz mit den Nachbarn schnacken können. Unser Hund ist in diesen Tagen fast depressiv geworden und selbst der Garten konnten ihn nicht wirklich aufheitern. Er hat das Schnüffeln und Spazierengehen schon sehr vermisst und an manchen Tagen sogar das Essen verweigert. Armer alter Hund.

Um noch einmal auf die Schnelltests zurückzukommen, die in Europa ja anscheinend seit einigen Monaten fest zum Alltag gehören, möchte ich sagen, dass diese AntigenTests für uns eine absolute Premiere waren. Erst seit Ende März sind Schnelltests in China zugelassen und so fand ich unseren allerersten Test tatsächlich spannend. Mittlerweile sind die meisten Schnelltests hier mit einem QR Code versehen und natürlich wurde auf die Schnelle ein neues Mini-Programm entwickelt, wo man seine Ergebnisse mittlerweile hochladen kann, manchmal auch hochladen muss. Nun finden wir in unserer Alipay App nicht nur unseren hoffentlich stets grünen Healthcode, sondern zusätzlich noch den Impfstatus, alle unsere Testergebnisse und in welcher Stadt ich mich die letzten 14 Tage aufgehalten habe (Travel-Code). Die Datenkrake hat weiterhin mächtig Hunger. Es ist wirklich unglaublich und ich bin froh, wenn ich dem ganzen Datensammelsurium im Sommer entkommen kann. Beeindruckend finde ich allerdings mit welchem Tempo neue Apps und Mini-Programme hier aus dem Boden gestampft werden und von einem Tag auf den anderen tatsächlich funktionstüchtig sind.

 

Die Stimmung bei uns daheim war insgesamt ziemlich gut. An manchen Tagen recht entspannt, dann war irgendwer mal kurzzeitig ordentlich genervt, aber wir haben die 11 Tage gut überstanden. Ich mag mir allerdings nicht vorstellen, wie das ganze ohne Auslauf im Garten ausgesehen hätte. An Tag 9 hörten wir das erste Mal von einem 3-Stufen-System zur Öffnung der Compounds und Nachbarschaften. An Tag 10 wurde viel spekuliert und etwas gehofft. An Tag 11 wurden wir dann der "niedrigsten Gefahrenstufe" zugeordnet, da unser Compound auch weiterhin komplett Coronafrei geblieben ist - knock, knock, knock - on wood! Das sollte bedeuten, dass sich die Tore des Compounds öffnen sollten, aber wir müssten noch auf genauere Anweisungen warten. OK. An Tag 12 wurden uns die neuen "Regeln der Freiheit" bekannt gegeben: Wir dürfen uns nun innerhalb des Compounds frei bewegen, aber immer mit Maske und Social Distance zwischen den Familien. Der Compound darf im Prinzip verlassen werden, ABER immer nur eine Person pro Haushalt und Tag darf sich zu Fuß nach draußen bewegen. Roller, Fahrrad und Auto sind bis auf Ausnahmen verboten. Herzlichen Glückwunsch!

 

Ich habe mich gleich am ersten Tag auf den Weg gemacht und bin unsere Straße einmal komplett auf und ab gegangen. Ein trauriger Anblick. Kaum jemand war unterwegs, da die meisten Compounds nach wie vor geschlossen sind. Alle Geschäfte waren zu - bis auf den kleinen Laden, der typisch chinesisch "offen-nicht offen" hat, ohne Licht und bei geschlossener Tür. Leere Straßen, ein paar wenige Spaziergänger, ein paar Rollerfahrer, die Lieferungen von A nach B fahren und unglaublich viel Laub überall. So habe ich lediglich einige Fotos gemacht, mich über den Spaziergang und die Bewegung gefreut und bin dann wieder in unserem Compound verschwunden. Shanghai ist echt gerade eine Geisterstadt. Da war der Lockdown 2020 Pipifatz dagegen. Ein Ende ist nicht wirklich in Sicht, eine Exit-Strategie nirgends zu finden und China-weit gehen überall Millionenstädte in den Lockdown, obwohl es bis jetzt oft nur wenige Fälle dort gibt - vorbeugend quasi. Nun denn. Was soll ich zu dem Ganzen sagen? Es ist aus meiner Sicht ein Disaster für diese tolle, im Grunde sehr offene und liberale Stadt und ich bin froh, dass zumindest wir unsere persönlich Exit-Strategie für den Sommer geplant und vor Augen haben.

 

Mit diesem Bericht habe ich mich tatsächlich recht schwer getan, da das Ganze gar nicht so einfach in Worte zu fassen ist. Es ist auch nicht einfach zu durchblicken. An manchen Tagen auch nicht ganz einfach auszuhalten. Und ich schwanke manchmal auch zwischen spannend und erschreckend, wozu dieses Land in der Lage ist und wie diese Propaganda-Maschinerie läuft und arbeitet und bei vielen auch ganz wunderbar wirkt. Des Weiteren bin ich wahnsinnig erstaunt, wie naiv aus meiner Sicht viele Expats dem Ganzen begegnen und munter vor sich hin hoffen, dass sie ihr HalliGalli-Leben in Shanghai bereits im Sommer weiter fortsetzen können. Ich sehe das noch nicht, aber das geht mich dann nix mehr an. Dann bin ich schon raus hier.

 

Liebe Grüße sende ich aus dem untergehenden Land der aufgehenden Sonne.

die Gatzingerin